Ist eine wertschätzende Aneignung von Kultur möglich?

von Bruni Sonne

Der Beitrag ist auch auf Englisch und Französisch verfügbar.

Ich bin weiß[1], deutsch, weiblich und im Großen und Ganzen ziemlich privilegiert[2], in Deutschland – und umso mehr global gesehen. Ich habe sechs Jahre lang Dreadlocks getragen, dazu sehr häufig Kleidung aus afrikanischen Stoffen. Jetzt kannst du im Prinzip aufhören zu lesen und mich sogleich als rassistisch abstempeln. Meine Sünde: Cultural Appropriation[3] (zu Deutsch: kulturelle Aneignung).

Oder du liest weiter und lernst mich als Person erst mal ein wenig kennen.

Ich sehe, dass weiße Personen mit Dreadlocks offensichtlich Schwarze Menschen insbesondere in Deutschland/im globalen Norden verletzen können. Das war nie meine Absicht und es tut mir wirklich leid, dass ich durch das Tragen von Dreadlocks Verletzungen bei manchen Schwarzen Personen hervorgerufen habe. Mir ist es wichtig zu betonen, dass ich mit diesem Blogbeitrag die Verletzungen, die weiße Personen mit Dreadlocks bei einigen Schwarzen Personen hervorruft, nicht relativieren möchte. Genauso wenig möchte ich sie vergleichen, mit meiner eigenen emotionalen Vulnerabilität bei dem Thema. Weiterhin will ich betonen, dass ich keinesfalls abstreiten will, dass es eine negative Form der kulturellen Aneignung gibt, insbesondere (aber nicht ausschließlich) im Zusammenhang mit kapitalistischer Ausbeutung wird dies besonders deutlich. Aber kann es nicht auch positive, wertschätzende, kontextbewusste Formen geben, sich Aspekte oder Symbole anderer Kulturen zu eigen zu machen?

Ich will mir nicht anmaßen zu wissen, wo frau genau die Grenze ziehen sollte, aber ich will darauf hinweisen, dass ich die Welt als komplexer wahrnehme, mit einem Spektrum zwischen neokolonialer, rassistischer, ignoranter kultureller Aneignung und wertschätzenden Formen sich Aspekte anderer Kulturen anzueignen und dass ich mir wünschen würde, nicht vorschnell pauschal verurteilt zu werden, ohne dass Menschen mich und meine Beweggründe kennen. Deswegen entschuldige bitte, dass sich zur Veranschaulichung der Rest des Textes ziemlich stark um meine persönliche Geschichte dreht. Nein, ich begreife mich nicht als Nabel der Welt und es gibt tausende wichtigere Probleme als diese Geschichte. Deswegen hat es auch Jahre gedauert, bis ich jetzt erst diesen Text schreibe, zu lange habe ich das Thema versucht vor mir selbst runterzuspielen. Aber Fakt ist, es beschäftigt mich schon seit langem, also ist es vielleicht doch mal an der Zeit auch dieser Perspektive Raum zu geben…

Mit 17 habe ich im Französisch-Leistungskurs Tiken Jah Fakoly kennen und lieben gelernt. Bis heute ist er mein absoluter Lieblingskünstler. Ich habe durchs Übersetzen so vieler seiner französischsprachigen Lyrics mein Französisch aufpoliert, eine (politisierte) afrikanische Perspektive auf den Kontinent kennen gelernt und eine schüchterne Liebe zum (Mit)singen entdeckt. Vor allem aber bin ich seinem Ruf gefolgt: « Viens Voir, toi qui parle sans avoir, l’Afrique n’est pas ce qu’on te fait croire » (auf Deutsch: Komm und sieh, du, die du sprichst, ohne zu wissen, dass Afrika nicht das ist, was man dich glauben lassen will). Nach meinem Abi in einer kleinen wohlhabenden, überwiegend weiß geprägten Kleinstadt, bin ich für sechs Monate nach Senegal gegangen. Heute sehe ich Freiwilligendienste in der Regel aus verschiedenen Gründen recht kritisch. Aber dankbar bin trotzdem für diesen ersten Aufenthalt, der mein Leben so stark geprägt hat wie nur wenig Anderes. Ich bin dankbar für meinen ‚kharitu bu ben bakan‘, meinen besten Freund und damaligen Gastbruder M., der mich im späteren Verlaufe mehrmals in Deutschland besucht hat. Dankbar für meine Gastfamilie, die ich seitdem immer wieder besucht habe. Ich bin dankbar für die Handvoll Freundschaften, die seit damals irgendwie überdauert haben. Dankbar dafür, dass ich vor zwei Jahren Patentante des ersten Kindes eines guten Freundes aus dieser Zeit wurde. Aber vor allem haben diese sechs Monate meinen Blick auf die Welt verändert. Angeblich hatte ich schon als Kind ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und auch zu Schulzeiten habe ich mich für Themen der Gerechtigkeit interessiert, Ethik war mein Lieblingsfach. Allerdings war ich damals in einem völlig entpolitisierten Kontext. Und so war es die schreiende globale Ungleichheit zwischen ökonomisch arm und reich, die mir in Senegal nicht nur theoretisch, sondern irgendwie auch auf eine gefühlte Art und Weise bewusstwurde und die mich für immer politisiert hat.

Auch nach neun Senegal-Aufenthalten verschiedener Dauer und mehrerer Jahre Beziehung mit senegalesischen Partnern, lerne ich immer wieder neue Dinge, darunter einige, die ich in Deutschland als Manko erlebe. Ebenfalls dankbar bin ich für die senegalesischen Lektionen zu Geduld und insbesondere übers Teilen. Ich will nicht behaupten, dass insbesondere letzteres einfach war – in einer hoch individualisierten und kapitalistischen Gesellschaft aufzuwachsen, legt frau nicht von heute auf morgen ab. Noch weniger will ich damit aussagen, dass der Prozess des Lernens von der senegalesischen Gesellschaft (inkl. des Teilens) für mich abgeschlossen ist. Auch mein Schönheitsideal hat sich durch Senegal verändert: Eine stärkere Wertschätzung meiner Kurven sowie meiner Bein- und später auch Achselhaare. Dies war gepaart mit der Entdeckung einer für mich neuen Ästhetik, die ich rund um mich herum beobachtete: afrikanische Stoffe, das Tragen von viel Schmuck (also z.B. Ohrringe, plus Kette, plus Armbänder/-reife, plus Fingerringe), geflochtene Zöpfchen (braids), Dreadlocks, seltener Afros und nicht zuletzt verschiedene Töne Schwarzer Haut.

Schon auf meiner ersten Reise ging es los mit der Kultur des Schenkens: Kolleg*innen, Freund*innen, manchmal Verkäufer*innen schenkten mir senegalesische/(west-)afrikanische Kleidung, Stoffe und Schmuck. Zum Abschied dann auch meine Gastfamilie. Zusätzlich kaufte ich mir selbst Stoffe und ließ sie bei meinem mittlerweile verstorbenen Freund und Schneider M. (möge seine Seele in Frieden ruhen) zunächst in Modelle meiner Fantasie, später eher in an die lokale Mode angepasste Kleidungsstücke verwandeln. Aber ich bekam auch Stoff von einer Frauenkooperative mit dem Auftrag mir eine ‚taille basse‘ (Oberteil, bodenlanger Rock, ggf. mit senegalesischem Kopftuch) für deren Feier schneidern zu lassen. Dort angekommen war es irgendwie berauschend, dass alle Frauen, inklusive mir den gleichen Stoff nur in leicht abgewandelten Modellen trugen. Dann ein kurzer Schock, ich hatte kurz den Eindruck mich selbst zu sehen, aber es war nur eine andere weiße Frau mit zwangsweise dem gleichen Outfit, einer ähnlichen Figur und der gleichen Sonnenbrille. Natürlich wusste ich auch nach mehreren Monaten, dass ich in diesem Land nur zu Gast bin, darüber konnte auch mein Konversationswolof nicht hinwegtäuschen. Nur dass ich mit meiner weißen Haut in einer Schwarzen Menschenmenge so herausstechen würde, das hatte ich irgendwie nicht gedacht – bis zu diesem kurzen Schreckmoment hätte ich damals fast kurz vergessen, wie weiß ich bin.[4]

Zur Tabaski, zum Opferfest, ließ ich mir dann dünne Zöpfchen (braids) flechten, meine Dreadlocks folgten erst ein paar Jahre später. All dies war Teil einer Annäherung an diese für mich neu entdeckte Ästhetik, die für mich nicht losgelöst, sondern Teil von Kultur und Gesellschaft ist. Dabei verfolge ich natürlich nicht das Ziel Schwarz zu werden. Ich bin weiß und werde immer weiß sein. Aber ich spüre das Bedürfnis nach einer gewissen Form von Annäherung, von Integration (?) in die senegalesische Gesellschaft. Dafür lerne ich weiter die Hauptverkehrssprache wolof, stelle meinen nächsten senegalesischen Vertrauten viele Fragen und zeige meine Wertschätzung des Gastgeberlandes unter anderem dadurch, dass ich mich kleidungsmäßig anpasse und dass ich mich bemühe bei der Kultur des Schenkens mitzumachen sowie die Kultur der Gastfreundschaft zu praktizieren (ebenso in Deutschland). Das soll natürlich nicht heißen, dass ich ausnahmslos alles an senegalesischer Kultur super finde, aber das tue ich in Deutschland ja ebenso wenig. Und ob ich eine gute Schüler*in bin oder vielleicht doch nur mittelmäßig, das müssen Senegales*innen beurteilen.

Fakt ist, Senegal hat mich verändert. Senegal ist ein Teil von mir geworden. Das macht mich natürlich nicht zur Senegalesin, aber ich kann mir nicht vorstellen, Senegal jemals wieder aus meinem Leben auszuradieren. Weder die Freundschaften noch bestimmte Aspekte der Kultur(en) oder die zahlreichen Lektionen, die Senegal mir seit immerhin über zehn Jahren beschert.

Aber mein erster Aufenthalt hat mir auch viele Fragen aufgeworfen und in dem Versuch, diese zu beantworten (z.B. wo kommt die grassierende weltweite Ungleichheit her?), habe ich sowohl mein Bachelor- als auch mein Masterfach gewählt und mich in diesem Zuge mit Kritik an Entwicklungszusammenarbeit, einschließlich post-development sowie mit postkolonialen Perspektiven, einschließlich auf unser Wirtschaftssystem beschäftigen dürfen.

Die nächsten Westafrikaaufenthalte werde ich nur andeuten, wahrscheinlich habt ihr nicht bis übermorgen Zeit diesen Blogeintrag zu lesen. Ich war also in verschiedenen Kontexten (Besuche, Reisen, Praktika, Forschung) noch mehrfach in Senegal und auch in ein paar anderen westafrikanischen Ländern (Gambia, Benin, Togo, Burkina Faso, Niger). Senegal blieb jedoch das Land meines Herzens. Während den letzten 2 Monaten eines 9monatigen Aufenthalts in Benin einige Jahre später interviewte ich Menschen, die sich selbst als Rastas identifizieren. Damals hatte ich bereits seit ein paar Monaten Dreadlocks und wollte unter anderem mehr über die Hintergründe dieser Frisur erfahren. Natürlich habe ich mich auch gefragt, wie mich Schwarze Rastas als weiße Person mit Dreadlocks wahrnehmen würden. Ablehnung habe ich dabei kein einziges Mal erfahren (zumindest wurde mir keine kommuniziert). Ich selbst habe mich nie als Rasta identifiziert, sondern habe kommuniziert, dass ich neugierig sei zu erfahren, was es bedeutet Rasta zu sein und auf Nachfrage hin, dass ich mit Rastafari sympathisiere. Und doch wurde mir im Laufe der Interviews von meinen Gegenübern ein paar Mal zugeschrieben, Rasta zu sein, in einer inkludierenden Art und Weise. Das hat mich sehr überrascht, aber ich habe mich gefreut und willkommen gefühlt, während ich es mir nie anmaßte mir diese komplexe (jedoch durchaus recht heterogene) Identitätskategorie selbst zuzuschreiben. Bei Gesprächen wurde jedoch auch deutlich, dass es für manche Beniner*innen eine Frage von Style und Ästhetik ist, Dreadlocks zu tragen, und dies nicht unbedingt spirituell bedingt und/oder mit Rastafari verknüpft sein muss. Für andere ist es sehr wohl spirituell mit Rastafari verknüpft oder z.B. im Falle von vielen, aber nicht allen Senegales*innen und Gambianer*innen mit Dreadlocks mit den Bayefall und Yayefall, einer muslimischen, sufistischen Strömung, deren Anhänger*innen häufig Dreadlocks tragen.

Wenn ich gerade in Deutschland bin, dann habe ich viele Freund*innen aus allerlei Ländern der afrikanischen Diaspora um mich, wer auf Festen von mir war, hat bestimmt einen Eindruck davon bekommen. Des Weiteren organisiere ich mich in verschiedenen Kontexten politisch mit teilweise geflüchteten, teilweise studierenden Afrikaner*innen in Deutschland zu Themen wie Kampf gegen Neokolonialismus und für Bewegungsfreiheit. Von vielen erfahre ich regelmäßig Wertschätzung gegenüber meiner Person und auch Komplimente zu meinem ‚afrikanisierten‘ Aussehen.

Und boom, eines Tages brach die Debatte um kulturelle Aneignung über mich herein. Und dann hat es noch einen guten Moment (=mehrere Jahre) und viele innere Monologe gedauert, bis meine Dreadlocks gefallen sind – mit dem Versprechen an mich, dass meine Kleidung aus afrikanischen Stoffen und mein Schmuck bleiben werden. Zu groß war die Angst, mich sonst zu verlieren. Jetzt, wo ich mein Herz längst an Senegal verloren hatte und Senegal ein Teil von mir geworden war.

In den vielleicht zwei Jahren, bevor ich zur Schere griff, fielen mir manche Situation nicht leicht, Situationen, in denen ich mich anderenfalls wohl gefühlt hätte: Zu einem postkolonialen deutschlandweiten Vernetzungstreffen gehen (aus Angst vor Ablehnung blieb ich schüchtern, insbesondere den BPOC[5]-Teilnehmenden gegenüber), eine Veranstaltung mit einem Schwarzen Gast von Berlin Postkolonial moderieren (ich ließ im Vorfeld anfragen, ob es ihm recht sei, von einer weißen Dreadlocksträgerin moderiert zu werden, was er zu meiner Erleichterung bejahte), zu einem BPOC-Festival in meiner Stadt gehen (zwischendurch hatte ich das dubiose Gefühl ablehnende Schwingungen wahrzunehmen und bat den mich zur Veranstaltung begleitenden namibischen Freund, kurz mit mir rauszugehen), im antirassistischen Block der Unteilbar-Demo in Berlin mitzulaufen und die Rede eines kongolesischen Mitstreiters vorzulesen (ich flüchtete zum Gesundheitsblock). Also insbesondere (politisierte) Situationen mit Schwarzen Personen, die ich nicht kenne und von denen ich auf den ersten Blick nicht weiß, wie sie zu weißen Dreadlocksträger*innen stehen und je nachdem, ob sie in Deutschland sozialisiert sind (was allerdings nicht unmittelbar sichtbar sein muss), rechne ich mit einem höheren Ablehnungspotenzial – wenn sie hingegen auf dem afrikanischen Kontinent sozialisiert sind, rechne ich mit einem niedrigen Ablehnungspotenzial meiner Person (jeweils auf den ersten Blick).

Selbstverständlich ist es gut möglich, dass es bestimmten Schwarzen Personen auf der anderen Seite auch nicht leicht fiel mit meiner Präsenz umzugehen, mitunter war das sogar viel schwieriger. Vieles habe ich sicher nicht mitgekriegt oder manchmal nur Schwingungen, bei denen ich nicht sicher sein konnte, ob es überhaupt irgendetwas mit meinen weißen Dreadlocks zu tun hatte. Explizites negatives Feedback habe ich in den sechs Jahren selten bekommen. Einmal kollektive Kritik auf einem Plenum auf einem Klimacamp, wo eine Schwarze Aktivistin gesagt hat, sie würde sich nicht wohl fühlen mit den vielen weißen Menschen mit Dreadlocks hier. Daraufhin habe ich mir für die restlichen Tage ein Tuch um die Haare gebunden. Natürlich möchte ich nicht, dass sie sich wegen mir unwohl fühlt. Und ja, es ist ambivalent, dass ich diese Konsequenzen nicht darüber hinaus gezogen habe, da ich nicht wissen kann, für wen meine Präsenz noch eine Störung darstellt. Dann individuelles Feedback an mich im Rahmen einer wissenschaftlichen Online-Konferenz. Die Schwarze deutsche Referentin sagte, sie hätte sich nicht auf meine Frage konzentrieren können, weil sie sich die ganze Zeit gefragt hätte, ob sie richtig sehe, dass ich wirklich weiß mit Dreadlocks und afrikanischer Kleidung sei (implizit meinte sie damit wohl auch: und dass auf einer postkolonial, antirassistisch ausgerichteten Konferenz). Diese Erfahrung hat mich besonders mitgenommen und sicherlich auch zu meiner finalen Entscheidung beigetragen.

Solche weiße Dreadlocks klar ablehnenden Reaktionen lassen sich, denke ich, vor allem auch mit den Spuren des europäischen (einschl. deutschen) Kolonialismus auf dem afrikanischen Kontinent erklären. Zur Kolonialzeit wurden afrikanische Kulturen, Wissen und Ästhetik systematisch von den europäischen Kolonisator*innen abgelehnt und abgewertet. Im Zuge der perverserweise sogenannten „Zivilisierungsmissionen“ gerieten auch natürliche afrikanische Frisuren wie Afros und Dreadlocks in Verruf, sollten „gezähmt“, sprich geglättet oder gekürzt werden. Und nur durch solche Anpassungen kam man im bestehenden System weiter nach oben (wo man sich möglicherweise eine gewisse Einflussnahme erhoffte). Auch im hiesigen System werden immer wieder Schwarze Personen mit Dreadlocks diskriminiert. Dass die Kolonialzeit alles andere als einfach vorbei ist, scheint mittlerweile sogar in Deutschland in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein, auch wenn den meisten sicherlich nicht bewusst ist, wie weit der Weg zur Dekolonisierung tatsächlich noch ist (hiervon möchte ich mich selbstverständlich nicht ausnehmen).

An dieser Stelle möchte ich den verschiedenen afrikanischen Freund*innen danken, mit denen ich mal beiläufiger, mal intensiver über das Thema gesprochen habe und von denen ich viel Rückhalt für das Tragen meiner Dreadlocks und Kleidung erfahren habe sowie Irritationen über die Position der kulturellen Aneignung gegenüber weißen Locks. Einige von ihnen fanden es später explizit bedauerlich, dass die Debatte mich letztendlich zum Griff zur Schere bewegt hat. Und ein besonders großes Dankeschön an dieser Stelle auch an S., dass du als Freundin und antirassistisch versierte POC-Person gerade in den letzten Monaten, als die Entscheidung eigentlich schon gefallen war, aber ich mich noch mental darauf vorbereiten musste und ein großes Emotionenchaos in mir geherrscht hat, für mich da warst und mein emotionales mit mir Ringen liebevoll und kritisch zugleich begleitet hast.

Gegen Schluss hin möchte ich noch eine kleine Anekdote mit euch teilen: Eine weiße, politische Mitstreiterin, die regelmäßig nach Mali reist, berichtete mir mal, dass sie in Mali mehrfach von malischen Mitstreiterinnen aufgefordert wurde, sich malische Kleidung zuzulegen, bzw. sie dafür auch Stoffe geschenkt bekam und sie jedoch Bedenken hatte der Aufforderung nachzukommen – wegen der Debatten um kulturelle Aneignung, die sie aus Deutschland kannte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Verfechter*innen des Vorwurfs der kulturellen Aneignung zum Ziel haben, dass weiße Menschen im globalen Süden Geschenke von Kleidung, Stoffen, Schmuck ablehnen? Und wenn es uns geschenkt wird, würde ich davon ausgehen, dass auch gewünscht wird, dass wir die Geschenke tragen? Und natürlich reisen die Geschenke mit dem Koffer dann mit nach Deutschland. Dürfen wir sie da dann weniger tragen als auf dem afrikanischen Kontinent? Sollen wir so schöne Dinge etwa im Schrank versauern lassen? Eine ehemalige Mitbewohnerin von mir hat vor 3 Jahren ihre gesamte Garnitur an Kleidung aus ihrem Jahr in Ghana aufgrund der Debatte um kulturelle Aneignung aussortiert, mit der Folge, dass der Großteil davon nun in meinem Schrank hängt… Eine senegalesische ‚taille basse‘ habe ich zugegebenermaßen noch nie in Deutschland getragen, außer auf einer Konferenz mit unseren internationalen Partner*innen, und ich trug diejenige ‚taille basse‘, die eine der senegalesischen Partnerorganisationen mir beim letzten Besuch geschenkt hatte. Für den deutschen Kontext vom Schnitt her etwas weniger „mächtige“ Kleidungstücke aus afrikanischen Stoffen sowie Schmuck trage ich jedoch recht häufig im Alltag.

Was nun? Seit einigen Jahren ist in mir zunehmend der Wunsch gewachsen nach Senegal zu ziehen. Ich hoffe dies in nicht allzu ferner Zukunft umsetzen zu können. Und ein klitzekleiner Teilgrund ist glaube ich schon, dass ich das Gefühl habe, hier in Deutschland nicht so richtig ich sein zu dürfen, jedenfalls nicht mit meiner gefühlten Senegal-Connection (samt meinem Bedürfnis, diese an meinem Körper zu visualisieren) in einem antirassistisch-politisiertem Umfeld – also genau dem Umfeld, indem ich mich doch eigentlich politisch zuhause fühle/fühlen möchte. Und ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich mir in Senegal dann auch wieder Dreadlocks wachsen lassen möchte. Ich rechtfertige das vor mir selbst damit, dass diese meiner Erfahrung nach in Deutschland sehr wohl als Affront aufgenommen werden können, in Senegal und auch den anderen afrikanischen Ländern, die ich bereist habe, habe ich dies hingegen in all den Jahren kein einziges Mal so wahrgenommen. Und auch nach 3 Jahren, in denen ich meine Dreadlocks ausgekämmt habe, fehlen sie mir immer noch regelmäßig.

Was will ich denn jetzt eigentlich aussagen mit diesem Text? – war eine Frage einer Herausgeberin. Ich glaube, ich erhoffe mir im besten Fall ein kleines bisschen mehr Empathie mit mir, wenn du, insbesondere als Schwarze Person, die kritisch gegenüber weißen Dreadlocksträger*innen eingestellt bist, mich das nächste Mal siehst, wenn ich dann vielleicht gerade mit meinen Dreadlocks und meiner Kleidung aus afrikanischen Stoffen in Deutschland auf Heimaturlaub bin. Und vielleicht naiverweise hoffe ich, dass dies eines Tages nicht mehr der Fall sein wird, dass dieses Dilemma der Verletzungen uns spaltet. Ich weiß nicht, ob wir deiner Meinung nach dafür zuerst in einer weitgehend rassismusfreien Welt leben müssen. Ich fürchte, das wird noch ganz schön lange dauern, aber lass uns definitiv trotzdem darauf hinarbeiten!

Okay, meine Editorin, hätte gerne noch eine politischere Aussage und sie hat ja recht… Natürlich, soll das Fazit meines Textes weder heißen, ‚Mach eine Ausnahme mit mir‘ noch ‚Mach eine Ausnahme mit all jenen anderen weißen, die eine „ausreichend tiefe“ Verbindung mit einem anderen Land aufgebaut haben. Wenn, dann müsste sich so ein Fazit erstens auch auf BPOC Personen beziehen, die sich anderen Ländern/Kulturen verbunden fühlen (oder auch nicht ganz, weil die Machtasymmetrien hier anders, wenn jedoch oft auch nicht hierarchiefrei gelagert sind). Und zweitens möchte ich nicht für Ausnahmen auf Basis von emotionaler Verbundenheit plädieren, denn das lässt sich Menschen nicht ansehen und lässt daher viele praktische Fragen unbeantwortet. Ich bin zwar so weit ausgeschweift, um an meinem eigenen Beispiel zu illustrieren, dass es manchen von uns weißen und auch BPOC Personen aus bestimmten (hoffentlich zumindest teilweise nachvollziehbar gewordenen) Gründen alles andere als leichtfällt, den Forderungen der Verfechter*innen der kulturellen Aneignungsdebatte nachzukommen, äußere Zeichen einer bestimmten Nation/Kultur/Region/etc., der wir uns verbunden fühlen und deren Wertschätzung wir gerne visualisieren würden, konsequent abzulegen. Und könnten wir uns hierauf einigen, wäre ich jedenfalls schon ziemlich glücklich.

Jedoch frage ich mich dann, was ich mit den Ohrringen machen soll, die mir meine mexikanische Kollegin aus ihren Heimaturlauben mitbringt, mit den zwei Kleidern, die mir ein befreundetes somalisches Paar aus Kenia mitgebracht hat, mit dem vermutlich indischen Rock, den mir ein beninischer Freund vom Flohmarkt in Benin, wo es eine Indienabteilung gibt, damals in Benin mitgebracht und geschenkt hat, usw. Hier würde mir das Verzichten sehr, sehr viel einfacher fallen, weil ich keine besondere Verbindung mit diesen Regionen spüre. Aber soll ich deswegen die Geschenke ablehnen? Oder soll ich sie höflicherweise annehmen und dann nicht tragen? Das kann irgendwie auch nicht Sinn der Sache sein, oder?

Auch wenn mir manche Dynamiken rund um die Debatte der kulturellen Aneignung absurd erscheinen, möchte ich demütig genug bleiben, um nicht „die Wahrheit“ zu verkünden, sondern nur meine subjektive Perspektive, die letztlich stärker emotional als sachlich geprägt ist. Entsprechend vulnerabel fühle ich mich bei dem Gedanken an die Veröffentlichung dieses Texts und habe mich deswegen dafür entschieden, anonym zu bleiben.

Außer Frage steht für mich allerdings auch, dass wir in Deutschland dringend daran arbeiten müssen, dass BPOC Personen, die Kleidung oder andere äußere Zeichen aus ihren eigenen nicht-deutschen oder nicht-mittel-/westeuropäischen Kultur(en) oder der ihrer Eltern/Vorfahren tragen können, ohne dass sie dafür rassistische Stereotypen wie „Rückständigkeit“, ein konservatives Mindset oder Vorurteile, dass sie nicht deutsch sprechen könnten, begegnen müssen. Auch Schwarze Personen mit Locks in Deutschland müssen ungerechterweise immer noch so viel kämpfen: Mein Ex-Freund wurde des Öfteren gefragt, ob er Drogen verkaufe, dabei konsumiert er weder Marihuana, noch Zigaretten noch Alkohol. Einem anderen Freund wurde im Job (Ingenieursbüro) Druck gemacht, sich die Dreadlocks abzuschneiden, falls er aufsteigen wolle. Und das sind sicher keine Einzelfälle. Sowie Fälle, die mir als weißer Dreadlocksträgerin (nicht zufällig) nicht passiert sind. Leider ist Rassismus (im kleinen wie im großen) nach wie vor hoch im Kurs, es bleibt viel zu tun für uns als Gesellschaft.

P.S. Irgendwie vergleichbar und zugleich völlig anders ist die Erfahrung der fiktiven Romanfigur Saraswati im Buch ‚Identitti‘ von Mithu Sanyal, welches ich als sehr nahrhaftes ‚Gehirnfutter‘ zu Fragen wie, was race eigentlich tatsächlich bedeutet, wahrgenommen habe, auch wenn ich wahrscheinlich mit mehr Fragen als Antworten aus dem Buch rausgegangen bin.

P.P.S. Ich weiß wirklich nicht, ob das was zur Sache tut, aber meine ersten geflochtenen Zöpfchen (braids), hat mir meine (angeheiratete), (ost)afrikanische Tante zum Geburtstag gemacht, als ich ungefähr 11 war. Ich fand das total toll damals, dass sie mir das geschenkt hat. Ich werde das unter anderem nie vergessen, weil auf dem entsprechenden Klassenfoto…direkt davor in der Pause haben mir meine Freundinnen geholfen die Zöpfchen zu öffnen…hatte ich anstatt langweiliger Spaghettihaare super voluminöse und frizzelige Haare. Länger als ein paar Stunden hat das zu meinem Bedauern damals allerdings nicht gehalten.

Über die Autorin

Die Autorin ist eine weiße, auch anderweitig recht privilegierte Akademikerin/Doktorandin im Bereich Postkolonialismus. Sie reflektiert in ihrem Blogbeitrag zu der Frage, ob kulturelle Aneignung per sé negativ ist, oder ob es nicht auch wertschätzende, bisher von der Debatte vernachlässigte, Formen von Aneignung kultureller Aspekte geben kann. Da die Debatte des Öfteren recht aufgeladen ist, hat sie sich entschieden ihren Text unter Pseudonym zu veröffentlichen.

[1] Ich verstehe ‚weiß‘ genauso wie andere Kategorien, die wir im Englischen als ‚race‘ bezeichnen, nicht als biologische Kategorie. Trotzdem ist es eine wirkmächtige Kategorie, die in diesem Fall diejenige privilegierte Position beschreibt, die aufgrund ihres Weißseins keine Erfahrungen von Rassismus erfährt.

[2] Ich bin eine weiße (cis-)Frau, ablebodied (habe keine Behinderung), ohne Religion, eher heterosexuell, stamme aus einer deutschen Mittelschichtfamilie und habe zwei Uniabschlüsse.

[3] Solltest du mit der Debatte um kulturelle Aneignung nicht (oder nur oberflächlich) vertraut sein, würde ich dir empfehlen, nach dem Stichwort im Internet zu suchen und insbesondere Artikel/Podcasts, etc. von Schwarzen Autor*innen, die die Gegenposition vertreten, dazu zu lesen, um dir ein umfassenderes Bild zu machen. Dieser Blogbeitrag bildet keineswegs die Debatte an sich ab, sondern ist vielmehr eine Reaktion auf die im anti-rassistischen Milieu vorherrschende Position in der (deutschen/europäischen/US-amerikanischen) Debatte, kulturelle Aneignung durch weiße Menschen sei durchweg negativ, da immer in (neo)kolonialer Manier aneignend und könne nicht auch wertschätzend und sich Machtasymmetrien bewusst sein.

[4] Heute bin ich mir bewusst, dass dies umgekehrt Schwarzen Personen im globalen Norden nicht so schnell passiert, da die rassistische Mehrheitsgesellschaft sie immer wieder daran erinnert, dass sie vermeintlich anders sind.

[5] BPOC steht für ‘Black and People and Colour’, damit gemeint sind alle Personen, die nicht weiß sind. Und ja Mama, darunter fallen auch z.B. für dich asiatisch aussehende Personen in Deutschland, sprich es geht um mehr als nur um die Hautfarbe.